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"Kritische Anmerkungen zur populären Jenseitsmetaphysik"
Dissident schrieb am 29. November 2002 um 5:35 Uhr (582x gelesen):
Einige kritische Anmerkungen zur populären Jenseitsmetaphysik.
gerichtet an alle, denen es nicht genügt, sich 'gut zu fühlen', die schnellen und allzu wohlklingenden Antworten gegenüber skeptisch bleiben und - ganz im Sinne KANT's - in der Lage sind, sich ihres Verstandes ohne der Leitung eines anderen zu bedienen:
Könnten wir über die ersten und letzten Dinge, über Ätiologie, Kosmologie und Eschatologie, über das wahre Wesen des Menschen und dieser Welt, über den Sinn des Lebens und des ungeheuerlichen irdischen Leidens eine unbezweifelbare und universell gültige Gewißheit erlangen, dann gäbe es dieses Forum nicht.
Aus Gründen, die ich in diesem Abschnitt noch nicht erläutern kann, ohne zu weitschweifig zu werden, stellt sich der Mensch die Frage: Warum? Woher? Wohin? - obwohl er weiß, daß er niemals eine Antwort erhalten wird, die nicht von nagenden Zweifeln überschattet ist. Dennoch denkt er nach (er kann nicht anders), und dieses Nachdenken ist auch völlig legitim, solange er die Prämissen, Implikate und Konsequenzen seiner Gedankenkonstrukte kontinuierlich und systematisch in Frage stellt.
Es gibt verschiedene Herangehensweisen an 'erste und letzte Fragen'. Für den folgenden Argumentationsgang beschränke ich mich darauf, die im Jenseitsforum favorisierte, von mir so genannte 'außerweltliche Methode' zu kritisieren.
Bei diesem Ansatz wird ein 'orbitaler' ('überweltlicher' bzw. 'außerweltlicher') Standpunkt eingenommen, die letzte Wirklichkeit, die höchste Wahrheit unmittelbar 'geschaut'. Von dieser Perspektive aus lösen sich alle Konflikte und Widersprüche in der Einheitserfahrung auf, die o.g. Menschheitsfragen stellen sich nicht länger.
Ziel dieser Methode ist die Erfahrung zweifelsfreier Gewißheit. Alle religiösen und philosophischen Positionen, die so verfahren, sind weltanschaulich gebunden, denn sie argumentieren von einem vorgegebenen Weltbild aus und berufen sich auf eine unhinterfragbare Autorität. Autorität kann eine Schrifttradition sein (Talmud, Bibel, Koran, Bhagavad-Gita etc., aber auch eine Person, ein 'homo religiosus' (Religionsstifter, Reformer, Prophet, Mystiker, Guru, Meister etc.) und dessen Prophezeiungen, Visionen, 'Schauungen'.
Ich halte diese Methode für völlig legitim. Sie hat nur gewisse Nachteile:
Erstens: Außerweltliche Letztbegründungen metaphysischer Fragen befinden sich oft im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand und zur kritischen menschlichen Vernunft. Die von diesem Standpunkt aus entwickelten Gedanken werden nur unter einer bestimmten Voraussetzung plausibel, nämlich dann, wenn sich der Adressat einer außerhalb seiner Kontrolle liegenden Autorität unterwirft, also Anhänger des jeweiligen Weltdeutungsmodells wird. Er erwirbt mit den Antworten ein Bekenntnis. Religiöse und philosophische Weltdeutungsmodelle, die auf außerweltliche Letztbegründungen zurückgreifen, sind sehr oft autoritär. Sie üben keinerlei Toleranz, erheben einen ausschließenden Absolutheitsanspruch und sind 'geltungsautark': Kritische Einwände und begründete Zweifel werden entweder ignoriert oder zur Bestätigung der eigenen Weltsicht instrumentalisiert. So kann beispielsweise eine dualistisches System seine Geschlossenheit bewahren, indem es jeden Kritiker und Zweifler als 'von einer bösen Macht besessen' disqualifiziert. Es ist durch seine eigene Struktur selbstbestätigend.
Zweitens: Alle Religionen und Philosophien, die außerweltliche Bezugsgrößen einführen und dann auf ihnen beruhen, haben ein Intersubjektivitätsproblem. Die eingeführten metaphysischen Größen ('Geist', 'Götter', 'Engel', 'Dämonen', jenseitige Sphären, Ebenen und Bewußtseinszustände etc.) sind leider nicht von jedem erfahrbar. Sie erschließen sich nur den zu religiösen/mystischen Erlebnissen Begabten ('homines religiosi').
Durchschnittsmenschen müssen sich entweder mit zweifelhaften Erfolgsausichten jahrzehntelangen Übungen unterziehen oder an die begehrten metaphysischen Letztbegründungen schlicht und einfach glauben und sich in Zweifelsfragen an die heilsvermittelnde beamtete Priesterschaft wenden. Doch selbst wenn jemandem - zufällig, unvorhersehbar und nicht erzwingbar - einmal ein solches Erlebnis zuteil wird, dann ist damit noch nichts über dessen Authentizität ausgesagt. Es gibt meines Wissens zur Zeit keine allgemein anerkannten Kriterien, durch die ein authentisches religiöses/mystisches Erlebnis eindeutig identifiziert und unzweifelhaft von solchen unterschieden werden kann, die auf Betrug oder Selbsttäuschung (Irrtum) beruhen.
Gewiß ist 'Intersubjektivität' in bezug auf Anwendung und Reichweite selbst ein problematischer Begriff. Denken wir nur an die Frage, in welchem Grade und bis zu welchem Ausmaß ein künstlerisches Werk intersubjektiv zugänglich ist oder nicht. Aber es dürfte ohne weiteres nachvollziehbar sein, daß der Glaube an einen Gott nicht die gleiche Intersubjektivität beanspruchen kann wie der Beweis eines mathematischen Satzes.
Die Voraussetzungen der außerweltlichen Methode des Umgangs mit 'ersten und letzten Fragen' sind also:
1) Das leidenschaftliche Bekenntnis zu allen metaphysischen Prämissen des jeweiligen Weltdeutungsmodells;
2) Die bedingungslose Unterwerfung unter eine unhinterfragbare Autorität (zumeist die Priesterkaste, deren Macht- und Geltungsansprüche und Verwertungsinteressen);
3) Das beharrliche Ignorieren der 'Glaubwürdigkeitslücke(n)' des Systems (zumeist ein bewußter, idealerweise jedoch ein automatischer Prozeß);
4) Die autoritäre Unterdrückung vernunftbedingter Kritik und Glaubenszweifel durch die Funktionäre des Systems.
Gibt es ein 'höheres Selbst', das - etwa im Sinne MONROE's - unbeeinflußt von raumzeitlichen Beschränkungen in der Anderswelt verweilt und Partikularentitäten aus sich heraussetzt, gen Erden schickt und dort Erfahrungen zu seiner (nicht meiner!) Vervollkommnung machen läßt? Falls dem so ist, wäre es sehr nützlich, wenn nicht nur wenige Auserwählte, sondern wirklich alle einen uneingeschränkten Zugang zu ihrer jeweiligen Metapersönlichkeit besäßen. Unsere Welt sähe dann nämlich ganz anders aus, aber selbst in diesem Falle gäbe es noch viele Fragen: Warum ist ein derart mühseliger Prozeß überhaupt notwendig? Wer hat einen Vorteil davon? Wer legt nach welchen Richtlinien den 'Lehrplan' für jede einzelne Partikularentität fest? Aus wievielen solcher Partikularentitäten (bzw. theologisch ausgedrückt: Einzelseelen) besteht eine Metapersönlichkeit ('höheres Selbst')? Worin bestehen die distinguierenden Persönlichkeitsmerkmale, anhand derer verschiedene Metapersönlichkeiten als eindeutig voneinander unterscheidbare Individuen identifiziert werden können? Oder handelt es sich um identische Wesen? Falls nein, wie können die Unterschiede gerechtfertigt werden? Solange das metaphysische Konstrukt eines 'höheren Selbst' nicht eine jederzeit von jedem und jeder erfahrbare Lebenswirklichkeit wird, bleibt es ein bloßer Glaube, der genauso unglaubwürdig und mißbrauchsanfällig ist wie etwa der Glaube an einen allmächtigen, allgütigen und allwissenden Schöpfergott auch.
Religion ist eine Daseinshaltung, die Weltdeutung mit normativer Ausrichtung verknüpft. Wir haben es also dann mit Religion zu tun, wenn bestimmte, zumeist mythologische, Welterklärungen für verbindlich erklärt werden und gleichzeitig eine bestimmte Moral, die buchstabengetreue Beachtung von Verboten und Geboten, dem Menschen sagt, wie er 'richtig' leben soll. Religion und Moral sind Wirklichkeitsbewältigungsstrategien, die als Folge der Anthropogenese institutionalisiert wurden. Dies detailliert aufzuzeigen, würde hier leider zu weit führen. Für uns entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß jede Religion, und das gilt auch für die 'frei flottierende' esoterische Religiosität, mit Notwendigkeit auf der Voraussetzung aufruht, es gäbe eine zu allen Zeiten, in allen Kulturen, in allen Gesellschaftschichten und in jeder Lebenssituation gleichermaßen universell und absolut gültige Moral. Muß ich wirklich noch ausführen, warum das schlicht und ergreifend nicht der Fall ist? Moral ist Menschenwerk und kann als solches keine absolute Geltung beanspruchen. In völliger Abhängigkeit von soziokulturellen, historischen und situativen Determinanten ist sie permanenten Wandlungen unterworfen. Welches soll denn die 'richtige' Moral sein? Ausrottung der Ungläubigen oder Toleranz bis zur Selbstaufgabe? Steinigung untreuer Ehefrauen oder Akzeptanz der Promiskuität als Lebensstil? Bekämpfung des Terrors oder Verherrlichung des Widerstandes? etc. etc. etc. Wir verfügen über keinen außerweltlichen Bewertungsmaßstab und innerweltlich ist Moral nur eine Funktion der Macht: ein System unterdrückerischer Verhaltensregulative, entwickelt von den jeweiligen Machteliten zur Durchsetzung ihrer Macht- und Verwertungsinteressen! Wo sind je Sieger vor Tribunale gezerrt worden? Je nach Einfluß, Macht und Vermögen der Täter werden geringe Verfehlungen schwer und schwere Verfehlungen gering bestraft. Die weltweit praktizierte Doppelmoral ist selbst Kindern schon geläufig. Wandel, Verfall, Widersprüchlichkeit und himmelschreiendes Unrecht, wohin man blickt!
Wer also als Esoteriker glaubt, wir wären hier auf Erden, um moralisch 'besser' zu werden, muß schon begründen, welche Moral er meint, und warum diese und keine andere.
Zu guter letzt: Das esoterische Entwicklungspostulat.
Es ist essentieller Bestandteil des Fortschrittsglaubens, der wiederum der Basismythos unseres westlichen Kulturkreises ist. Die Überzeugung, wir wären auf Erden, um uns höherzuentwickeln, ist ein anscheinend durch keinerlei Aufklärung zu erschütterndes Dogma. (Über die historische Genese des Fortschrittsmythos und die beliebte karmische Wiedergeburtseschatologie vielleicht - bei Interesse - einige Anmerkungen in späteren Beiträgen)
Was ist überhaupt 'Entwicklung'?
Hier fünf Bestimmungsmerkmale, die sich als Grundstrukturen des Entwicklungsbegriffs erkennen lassen:
1) Entwicklung ist stets ein einmaliges Geschehen. Sie hat einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende.
2) Alle Diskontinuitäten müssen sich auf kontinuierliche Zusammenhänge zurückführen lassen. Wo kontinuierliche Zusammenhänge nicht hergestellt werden können, liegt auch keine Entwicklung vor.
3) Entwicklung ist unumkehrbar. Ihr Ende kann nicht wieder zum Anfang werden.
4) Entwicklungsprozesse verselbständigen sich und bilden eine Eigendynamik aus. Sie entgleiten der Kontrolle durch bewußtes, absichtsgeleitetes menschliches Handeln und folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich allerdings nicht generalisieren lassen, da sie von Fall zu Fall variieren.
5) Entwicklungsprozesse sind immer zielgerichtet verlaufende, teleologische Prozesse.
Der Fortschrittsmythos fungiert als Letztbegründung des Werte- und Normensystems unserer (westlichen) Kultur. Letztbegründungen haben die Eigenschaft, so sie denn gesamtgesellschaftlich verbindlich geworden sind, 'unhinterfragbar' und 'unverhandelbar' zu werden. Die Überzeugung, daß 'wir' zu immer lichteren, humaneren, friedvolleren, reiferen, müheloseren, interessanteren und lebenswerteren Zuständen 'fortschreiten', hat sich bei einer beachtlichen Bevölkerungsmehrheit zu einer unbezweifelbaren Gewißheit verdichtet. Ob dieser 'Fortschritt' auf säkularem Wege (durch gesellschaftliche Emanzipationsprozesse) oder auf metaphysischem (esoterischen) Wege (etwa durch die Wiedergeburtenkette) in Gang gesetzt wird, ist dabei von marginaler Bedeutung. Eine Kritik dieses Basismythos stellt einen Generalangriff auf das Selbstwertgefühl seiner Anhänger dar und ist folglich hochgradig unerwünscht. Hier dennoch einige Fragen, die normalerweise nicht gestellt werden dürfen:
1) Wohin soll der 'Fortschritt' schreiten? Was ist sein letztes Ziel und wo endet er?
2) Fortschritt ändert nichts an der conditio humana! Die anthropologischen Konstanten (Körperhaftigkeit, Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit) sind aufklärungsresistent und unüberwindlich! Wir bleiben ihnen für immer unterworfen! Fortschritt kann also, wenn überhaupt, dann nur in unwesentlichen Bereichen stattfinden. Rechtfertigt das den Aufwand?
3) Alle vermeintlichen Verbesserungen der menschlichen Lebensqualität sind janusköpfig. Jeder tatsächlich erzielte Fortschritt zieht unbeabsichtigte und unvorhersehbare Folgekosten nach sich. Der durch 'Fortschritte' erhoffte Zuwachs an Wirklichkeitsaneignungskompetenz kippt immer rascher in einen existenzbedrohenden Kontrollverlust um. Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Anwachsen der Massenvernichtungsmittel und Zunahme der Desorientierungs- und Entfremdungserfahrungen sind Fortschrittsfolgekosten. Sind sie ein angemessener Preis für die geringfügige Anhebung unserer Lebenserwartung?
4) Der Fortschrittsmythos verdankt seine Existenz der Beobachtung von Wirklichkeitsveränderungen, die als Entwicklung gedeutet wurden. Aber der weitverbreitete Eindruck eines sich allmählich durchsetzenden Zivilisierungs- und Humanisierungsprozesses ist irrig. Er konnte entstehen, weil die großen regionalen Unterschiede innerhalb unserer Welt komplett ignoriert wurden. Im globalen Maßstab gibt es überhaupt keinen 'Fortschritt', wohl aber eine beispiellose Zunahme an Elend und Leid. Sind 'Fortschritte' gerechtfertigt, die einigen wenigen vorübergehend Vorteile verschaffen, großen Mehrheiten jedoch dauerhaft unerträgliche Lasten aufbürden?
5) Fortschritt bedeutet faktisch eine Zunahme an Macht. Nur die kontinuierliche Vergrößerung der menschlichen Wirklichkeitsaneignungskompetenz ist tatsächlich nachweisbar. Nicht die Lebensqualität wächst, sondern die Effizienz der Ausbeutungsmechanismen. Ausgebeutet wird sowohl die menschliche als auch die außermenschliche Natur. Warum sollte das wünschenswert sein?
6) Die Übertragung von biologischen, wissenschaftlichen, technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen auf den Bereich der Moral ist ganz und gar ungerechtfertigt! Oder sollen wir tatsächlich glauben, daß der Gegenwartsmensch dem Menschen der Altsteinzeit oder irgendeiner anderen Geschichtsepoche moralisch überlegen ist? Ganz offensichtlich gibt es keine 'moralische Höherentwicklung' des Menschen! Gäbe es eine solche, würden wir sie wahrnehmen. Durch welche Moralprinzipien können 'Fortschritte' gerechtfertigt werden, die den Menschen nachweisbar nicht 'verbessern'?
Ich hoffe, mit diesen skizzenhaft knappen Darlegungen einige wertvolle Anregungen zum Mit- und Weiterdenken gegeben zu haben und verbleibe
mit kritischem Gruß
Dissident

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Diskussionsverlauf:
- "Kritische Anmerkungen zur populären Jenseitsmetaphysik" ~ Dissident - 29.11.2002 05:35 (4)